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Als er an der S-Bahnstation in Wolfratshausen mit seinem Fahrrad ausstieg, türmten sich dunkle Wolken am Himmel auf, es sah nach Gewitter aus. Von hier fuhr er mit dem Fahrrad weiter, folgte einem Schild in Richtung Autobahn Garmisch. Die Landstraße zog sich endlos dahin, erste Regentropfen fielen. Verbissen trat Thomas in die Pedale und kämpfte sich vorwärts. Er wollte unbedingt zur Autobahn, die Brücke finden. Nichts würde ihn mehr aufhalten, nicht einmal die Angst, die seine Kehle jetzt fast zuschnürte. Es konnte nicht mehr weit sein. Ein leises Rauschen wurde hörbar, kam näher, schwoll schließlich zu dröhnendem Lärm an. Das musste die Autobahn sein. Thomas bekam kaum noch Luft, er hatte das Gefühl, ein eiserner Ring umklammert seine Brust, Schweiß rann ihm von der Stirn, brannte in den Augen. „Weiter, weiter, du musst!“, trieb er sich immer wieder an. Und dann sah er die Autobahnbrücke. – Dort hatte alles angefangen. Aufgehört. – Wie in Trance stellte Thomas sein Fahrrad ab, rutschte mit zittrigen Knien die nasse Böschung zur Autobahn runter, bis er vor der Brücke stand. Er schloss die Augen. Sein Herz fing an zu rasen, es klopfte im Hals, hämmerte dumpf in den Ohren. Chaotische, erschreckende Bilder schlugen wie Blitze auf ihn ein, so wie jede Nacht, wenn er träumte und dann schweißgebadet, schreiend aufwachte. Bilder, von sich und seinen Eltern im Auto: Sie lachen. Ein Geräusch, undefinierbar. Eine Brücke. Das Auto schleudert. Seine Hände, überdimensional. Sie umklammern den Hals seines Vaters. Angst. Panik. Die Brücke, ganz nahe. Ein dunkles Loch. Es verschlingt ihn.

„Nein! Nein! Halt an!“, schrie Thomas, dabei schlug er mit seinen Fäusten verzweifelt und wütend auf den Brückenpfeiler ein. Er war wie von Sinnen, wollte auf die Fahrbahn rennen, da wurde er von einer Hand am T-Shirt gepackt, zurück auf die Böschung gerissen und von einem jungen Mann festgehalten. Thomas schrie weiter, schlug nun auf den Mann ein, so lange, bis er nicht mehr konnte und erschöpft in die Arme des Fremden sank, der geduldig wartete, um Thomas anzusprechen: „Junge, was ist mit dir, warum bist du so verzweifelt? Magst du mir sagen, wie du heißt?“

Der Regen ergoss sich mittlerweile wie aus Kübeln über die beiden, vorbeifahrende Autos gaben ihrer Kleidung den Rest. Thomas weinte nur noch leise, es hörte sich an wie das hilflose Wimmern eines Babys. „Ich heiße Daniel, ich würde dir gerne helfen, wenn ich kann. Möchtest du mir nicht erzählen, was passiert ist?“

Thomas schaute Daniel an, erst jetzt nahm er ihn wirklich wahr. – Daniel war Ende zwanzig, er hatte ein sensibles Gesicht, über seine Lippen schien lange kein Lächeln gekommen zu sein. Seine melancholischen Augen hatten einen eigenartig abwesenden Ausdruck.

„Komm, lass uns zu meinem Auto gehen, wir sind ganz durchnässt.“

Thomas ließ sich zu dem Auto führen, das einige Meter vor der Brücke auf der Standspur stand. Bevor sie einstiegen, bekreuzigte sich Daniel vor einem kleinen Holzkreuz auf der Böschung. Schon viele Male hatte er dort gestanden.