Trümmerblumen
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Leipzig, 1948. Meine Familie: Zwei ältere Schwestern, meine Mutter und später Onkel Werner, unser Stiefvater. Ich war fünf Jahre alt und hatte lange blonde Zöpfe.

Unnachgiebig zeigte der Krieg, was er hinterlassen hatte, Zerstörung und Chaos. Viele Häuser lagen noch in Schutt und Asche, ein gewohntes Bild für mich. Unser Nachbarhaus war auch von einer Bombe getroffen worden. Ich spielte manchmal in den Trümmern. Einmal fand ich dort einen Teddybären, ein Bein von ihm hing nur noch an ein paar Fäden. Ich nahm ihn mit und fragte meine Mutter, wer das Bein abgemacht hat. „Das war der Krieg“, sagte sie.

„Wo wohnt denn der böse Krieg?“, wollte ich wissen.

„Ich weiß es nicht, er war lange hier, aber jetzt ist er fortgegangen“, beruhigte sie mich.

Ich steckte das Bein mit Sicherheitsnadeln wieder an und wickelte ein Taschentuch darum. Mutter hatte versprochen, es anzunähen. Doch was war mit den Menschen, würden ihre Wunden jemals heilen?

Mit dem Wiederaufbau ging es langsam voran. Ich wurde eingeschult. Meine Zuckertüte war klein und fast ganz mit Papier ausgestopft, obenauf lagen ein paar Äpfel, eine Zuckerstange und Malstifte. Ich war glücklich darüber. Wir hatten lange Zeit gehungert. Meine beiden Schwestern durften oft nicht zur Schule gehen, weil sie auf dem Weg vor Schwäche umkippten. Sie mussten dann immer im Bett bleiben, um nicht unnötige Kalorien zu verbrauchen. Wenn es Brot gab, tauchten wir es in Malzkaffee und braunen Zucker ein, falls wir gerade welchen hatten. Das war etwas ganz Tolles. Auch erinnere mich noch genau an den Tag, als wir zum ersten Mal Margarine aufs Brot bekommen sollten. Unsere Mutter schmierte die Brote, ich trug sie zu meinen Schwestern, drehte aber die Scheiben vorher um. Eva und Helga waren enttäuscht und maulten, weil sie sich schon lange darauf gefreut hatten. Ich wartete, bis sie in das Brot bissen. Ihre Reaktion brachte mich zum Lachen, es war mir gelungen, sie reinzulegen. Das war einer der kleinen glücklichen Momente in dieser Zeit. Hunger und Kälte quälten uns damals oft, wir hatten gelernt, damit umzugehen. Immer, wenn das nahe gelegene Rathaus oder die Schule mit Kohle beliefert wurden, schickte mich Mutter mit einer großen Tasche und den Worten „Lass dich nicht erwischen“ los. Ich ließ mich nie erwischen. Aber es gab noch eine andere Art von Hunger und Kälte.

Unsere Mutter war überfordert, ihre Nerven lagen blank. Jahrelange Angst, die Sorge, uns durchzubringen, zu überleben, veränderten sie. Blind vor Jähzorn schlug sie oft ohne ersichtlichen Grund auf uns ein, so als wollte sie dadurch den ganzen Frust ihres nicht gelebten Lebens loswerden, für Liebe war kein Platz mehr. Diese Zeit musste für sie ein Albtraum gewesen sein. Heute kann ich mir die junge Frau vorstellen. Sie hatte Träume, verliebte sich, bekam Kinder und dann brach der Krieg aus. Der Ehemann musste an die Front, sie allein mit den Kindern zurückbleiben. Ja, später verstand ich vieles. Aber wir waren Kinder und konnten nicht verstehen.

Meinen Vater kannte ich kaum. Er flüchtete aus der russischen Gefangenschaft zu seiner Mutter in die Westzone. Nach Leipzig durfte er nicht kommen, weil die Russen ihn sofort wieder abgeholt hätten. Er hat mich einmal auf seinem Arm gehabt und ich habe in seine großen braunen Augen geschaut. Das war alles, was ich von ihm wusste. Trotzdem war es eine intensive, schöne Erinnerung.

Als es dann endlich auch im Osten Deutschlands aufwärts ging, verliebte sich meine Mutter wieder und heiratete Onkel Werner. Sie wusste, dass er Kinder nicht mochte, aber die Sehnsucht nach Liebe, die Gier nach Leben, das riesige Defizit nach all den Entberungen und das Erwachen aus dem Albtraum konnten sie wohl nicht anders handeln lassen. Nur, wir verstanden es nicht.

Unsere Mutter stand nun stundenlang vorm Spiegel, nähte sich neue Kleider, ging fast jeden Abend mit Onkel Werner zum Tanzen aus und kam glücklich zurück. Er bekam Liebe und Aufmerksamkeit rund um die Uhr. Abends, wenn wir schon im Bett lagen, kochte sie heimlich für ihn, es roch dann immer so gut, vor allem nach Fleisch.

Für uns wurde das Leben schwerer, besonders für meine älteste Schwester Eva, sie musste jetzt viele Aufgaben im Haushalt übernehmen. Helga wurde zu meinem Vater nach Heidelberg gebracht. Instinktiv erkannten wir, dass wir auf der Strecke bleiben würden. Mutter beachtete uns nicht mehr. Unsere stumme Anklage hörte sie nicht, die ungeweinten Tränen sah sie nicht und merkte auch nicht, dass sie uns zu trostloser Einsamkeit verdammte. Eva fing an zu hassen, alles und jeden, auch mich.

Ich hatte noch Hoffnung. Eines Tages, ich war in der ersten Schulklasse, sprach unsere Lehrerin mit uns über den Krieg und die vielen gefallenen Väter. Sie sagte, dass nun manche Kinder einen neuen Vater hätten. Oft sei das nicht leicht, weder für die Kinder noch für die Erwachsenen. Aber es wäre schön, wenn wir versuchen würden, ihn zu akzeptieren und ihn „Vater“ nennen. Dadurch könnten wir uns näher kommen, wieder eine richtige Familie werden. Ich hatte aufmerksam zugehört. Was sie sagte, gefiel mir und löste Euphorie aus. Das wollte ich unbedingt probieren. Ich wartete lange auf eine günstige Gelegenheit. Als Onkel Werner irgendwann gute Laune hatte, wagte ich es. Ich stellte mich vor ihn hin und sagte strahlend: „Vati“. Dieser Tag war der schmerzlichste in meiner Kindheit. Sein Verhalten war niederschmetternd. Er gab mir eine gewaltige Ohrfeige und schrie mich an: „Das fehlte noch, solche Bälger am Hals zu haben! Für dich bin ich Onkel Werner, wage es nie wieder, mich Vater zu nennen!“ Der Rest meiner kleinen heilen Welt stürzte zusammen wie ein Kartenhaus. Ich war so traurig, dass ich mich ganz in mich zurückzog. Aus tiefster Not schuf ich mir eine wundervolle Fantasiefigur, kreierte eine unendliche Geschichte, in der ich ein armes Waisenkind war und adoptiert wurde. Ich nannte ihn Onkel Klaus. Er hatte große braune Augen. Am Abend, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, hatte ich etwas Schönes für ihn gekocht, ich schaute ihm so gerne beim Essen zu. Wenn er mich ins Bett trug, gab er mir Küsschen auf beide Augen und sagte: „Gute Nacht, mein Engel, träum schön.“ Dann schlief ich überglücklich ein. In dieser Fantasiewelt lebte ich einige Jahre. Ständig dachte ich neue Geschichten aus, sie wurden immer dramatischer. Mal war ich sterbenskrank, er weinte, hatte Angst um mich und legte mir nasse, kalte Tücher auf die Stirn, um das Fieber herunterzubringen. Dann wieder war er krank und ich war die ganze Nacht wach und bangte um sein Leben. Aber wir kamen durch, weil wir uns sehr lieb hatten und ich den Ablauf meiner Geschichten bestimmte. Das war die glücklichste Zeit in meiner Kindheit.

Ohne diese Wachträume wäre ich wahrscheinlich ein anderer Mensch geworden. Erstaunlich, welche Fähigkeiten manche Kinder entwickeln können, um sich vor dem Ertrinken zu retten. Ein Erwachsener wäre dazu kaum in der Lage. Ich kam relativ unbeschadet durch meine Kindheit. Meiner Schwester Eva ist das nicht gelungen. Allerdings eines zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben: Der Hunger nach Liebe.